Mein erstes Mal war irgendwann im Winter 2000. Zum damaligen Zeitpunkt machte ich gerade das Rettungswachenpraktikum im Rahmen meiner Rettungssanitäterausbildung.

Ich fuhr bei einer kleinen Kreiswache, die zwar oftmals wenig zu tun hatte, aber wenn, dann richtig aufwendige und anspruchsvolle Einsätze. So ist in direkter Nachbarschaft eine große Bundesstraße, die zum Rasen einlädt, und auch ich hatte in den vier Wochen Praktikum einige Verkehrsunfälle mit polytraumatisierten Patienten mitversorgt. Allerdings hatte ich noch keine Reanimation gehabt, ich wurde schon von den Rettungsdienstlern der Wache damit aufgezogen, wie man es denn schaffen könnte, immer die Dienste ohne Rea zu fahren?!?

Es war mein letzter Dienst, ich saß mit einem älteren erfahrenen Rettungssanitäter auf dem KTW. Der Tag war ruhig gewesen und in ’ner halben Stunde war Feierabend. Der RTW unserer Wache war gerade raus zum Kinderfußballturnier im Dorf, zu einer fraglichen Fraktur eines der Mini-Kickers. Unser Pieper ging, d. h. er machte Krach, aber wir bekamen keine Meldung, irgendwas funktionierte nicht. Da der KTW ja im Allgemeinen nun mal nur Verlegungsfahrten macht, stellte sich bei uns schlechte Laune auf Grund der technischen Probleme und der bevorstehenden Fahrt, die wahrscheinlich über unsere Dienstzeit hinausgehen würde, ein. Keine 30 Sekunden später meldete sich die Leitstelle über Draht, sprich Telefon. „Leblose Person, Reanimation durch Polizei vor Ort bereits begonnen, NEF und RTW aus dem Nachbarkreis alarmiert, brauchen aber zwischen zehn und 15 Minuten.“ Der Einsatzort war ca. 4 Häuser neben unserer Wache …

Wir also zum KTW gesprintet, geistesgegenwärtig hab ich noch ’nen Ersatzkoffer aus der Halle mitgenommen, da ja die KTW-Ausrüstung recht minimalistisch ist, und mit Sondersignal ging es ein paar Häuser weiter.

Wir wurden durch ein Ehepaar in Empfang genommen und in den ersten Stock zweite Tür links geschickt. In einem augenscheinlichen Kinderzimmer sah ich nur einen zierlichen aschgrauen Körper und zwei breitschultrige Polizisten, die eine lehrbuchmäßige Reanimation durchführten. Ich stand wie angewurzelt da! Eine ältere Person hätte ich ja erwartet, aber ein Kind oder Jugendlicher? Irgendwie konnte ich es nicht fassen, dem Körperbau nach war es ein Mädchen, das ich auf 16 oder 17 Jahre geschätzt hätte, ich traute mich gar nicht, so richtig ins Gesicht zu schauen, warum weiß ich noch nicht einmal. Mein RettSan hatte sich schon eine kurze Übergabe zur Auffindesituation geben lassen und übernahm am Kopf die Beatmung mit einem Ambubeutel. Er war völlig ruhig und wies mich an, noch die Absaugung aus dem KTW hochzuholen. Froh, etwas tun zu können, bei dem ich erst mal wieder das Zimmer verlassen konnte, erwachte ich aus meiner Starre, lief runter, stürmte in den KTW und bekam die Absaugeinheit nicht aus der Verankerung. Ich ruckelte an der Absaugung, Panik machte sich bei mir breit und mir schossen Gedanken durch den Kopf im Sinne von „ich bin schuld, wenn sie an ihrem Erbrochenen erstickt, weil ich die Absaugung nicht schnell genug geholt habe“. Mit der Haltevorrichtung und meiner Panik beschäftigt, bekam ich gar nicht mit, dass das NEF mittlerweile angekommen war. Auf einmal stand ein mir unbekannter RettAss neben mir im KTW, griff mir über die Schulter und sagte ganz ruhig, dass ich die Sicherungen auf beiden Seiten gleichzeitig runterdrücken muss. Die Absaugung löste sich ohne Probleme aus der Halterung. Der RettAss stellte sich als „Jupp“ vor und er fragte mich in einer weiterhin sehr beruhigen, fast väterlichen Art, ob dies meine erste Rea sei. Ich konnte lediglich ein „ja“ stammeln und nickte. „Na, dann beruhig dich erst mal, so schlimm ist das nicht, wir schaffen das schon. Jetzt atmest du mal tief durch und dann gehen wir da gemeinsam hoch!“

Jupp hatte es geschafft, mich mit diesen zwei Sätzen zu beruhigen und mir die Angst vor der Situation zu nehmen. Wir gingen zusammen hoch, ich war hoch konzentriert und fest entschlossen, jetzt mein Bestes zu geben und alles richtig zu machen. Dennoch erwartete ich erst mal einen großen Anschiss, da ich ja eine gefühlte Ewigkeit gebraucht hatte, um die Absaugung zu holen. Aber ich wurde von meinem RettSan mit den Worten „Ah, die Absaugung, super, stell sie bitte neben den Kopf, bereite sie vor und lös dann mal den Polizisten beim Drücken ab.“ empfangen. Ab jetzt funktionierte alles wie gelernt, jeder Handgriff saß, die Absaugung legte ich dem Notarzt, der gerade eine Intubation durchführte, fertig vorbereitet neben den Kopf und dann sagte ich dem Polizisten, dass ich jetzt weitermachen würde. Noch einmal kam ein merkwürdiges mulmiges Gefühl auf, ich würde jetzt gleich in ein paar Sekunden das erste Mal einen richtig echten Menschen reanimieren. Ein kurzer Blickkontakt mit Jupp, der beruhigend lächelte, mir aufmunternd zunickte und ich begann mit meiner ersten CPR, keine knackenden Rippen, ein gut eindrückbarer Thorax und einen vernünftigen Rhythmus hatte ich auch sehr schnell gefunden. Ich reanimierte und fühlte mich dabei überraschenderweise ganz gut. Ab jetzt lief alles wie gelernt und oftmals an der Puppe geübt.

Mittlerweile war auch der RTW aus dem Nachbarkreis da, wir waren also in dem kleinen Zimmer mit sechs Personen zugange, die Polizisten übernahmen netterweise die Betreuung der Eltern. Wir wechselten uns beim Drücken ab und die restliche Rea lief für mich wie automatisiert ab, ich funktionierte. Nach gefühlten zwei Stunden (ich glaube, es war weniger) und dem Verbrauch aller vorhandener Adrenalinreserven brach der Notarzt die Reanimation ab. Ich rechne es dem Notarzt hoch an, dass er uns nach der Rea, obwohl sie frustan war, allen das Gefühl gab, dass wir gute Arbeit geleistet haben.

Natürlich war ich froh, doch noch eine Rea in der Ausbildungszeit erlebt zu haben, obwohl sich die eigentlich traurigen Tatsachen, das menschliche Drama hinter der Situation, erst später herauskristallisierten. Erstens zur Auffindesituation: die Tochter hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und reagierte nicht mehr auf das Klopfen und Rufen der Eltern. Daraufhin hatten diese die Polizei informiert, die hatten die Tür gewaltsam geöffnet und das Mädchen an einem Regal erhängt vorgefunden. Da keiner wusste, wie lange sie da schon hing, hatten sie mit der Rea begonnen. Zweitens: Mein RettSan erzählte mir später auf der Wache, dass genau dieses Mädchen bereits vor einem Jahr einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Damals hatte sie eine Überdosis Tabletten genommen, war aber rechtzeitig gefunden worden. Drittens: Einige Tage später las ich in der Tageszeitung die Todesanzeigen und musste feststellen, dass ich mit meiner Altersschätzung danebengelegen hatte. Die Verstorbene war 14 Jahre, d. h. sie hat ihren ersten Selbstmordversuch mit 13 Jahren unternommen. Eine Tatsache, die mich fast noch mehr schockiert und mitgenommen hat, als die eigentliche frustane Rea.

Mein erstes Mal war bestimmt keine „Standard“-Reanimation (sofern es so etwas überhaupt gibt), dennoch hat es mich nicht abgeschreckt und ich bin dem Rettungsdienst lange Zeit … wenn auch mit Unterbrechungen … treu geblieben. Und auch jetzt im Studium ist mein Wahlspruch: „Wenn ich groß bin, werde ich Notarzt.“ Dennoch gibt es etwas, das ich bereue, ich habe Jupp leider nicht noch einmal getroffen und konnte mich nie bei ihm bedanken. Deshalb stellvertretend an alle erfahrene Rettungsdienstler, die uns Anfänger, egal welcher Berufsgruppe wir angehören, immer unter die Arme greifen, ein großes Dankeschön!

Mein „Erstes Mal“ – Nina B.
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